Mittwoch, 30. April 2014

How deep is your state?

Mit Thomas Richter alias »Corelli« ist ein wichtiger Zeuge im NSU-Prozess verstorben. Das bewegt manche Beobachter zu wilden Spekulationen.

Ralf Fischer / Jungle World


Zu den Todesfällen, die im Zusammenhang mit dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) stehen, ist ein weiterer hinzugekommen. Thomas Richter, unter dem Namen »Corelli« jahrelang als Spitzel des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) geführt, wurde Anfang April tot in seiner Wohnung im Landkreis Paderborn aufgefunden. Beamte des Bundeskriminalamts (BKA) waren eigens für eine erneute Befragung des im Zeugenschutzprogramm untergebrachten 39jährigen angereist. Den Ergebnissen der Obduktion zufolge starb Richter an einem nicht erkannten Diabetes. Der amtlichen Untersuchung zufolge liegen keinerlei Anzeichen für eine Fremdeinwirkung vor.

Thomas Richter machte sich in der bundesweiten Neonaziszene
einen Namen als Herausgeber der Zeitung Nationaler Beobachter, als Betreiber mehrere Internetseiten und als Gründer des »Nationalen Widerstands Halle/Saale«. Anfang der neunziger Jahre wurde er Mitglied der »International Knights of the Ku-Klux-Klan« (KKK), einem Ableger des rassistischen Geheimbunds aus den USA. Später trat er zusammen mit Achim Schmid und einem weiteren KKK-Mitglied wieder aus der Organisation aus und wirkte in der 2000 im baden-württembergischen Schwäbisch Hall gegründeten Sektion »European White Knights of the Ku-Klux-Klan« mit, die bis 2003 existierte. Zu den konspirativen Kapuzenmännern gehörten auch zwei Polizeibeamte der Böblinger Bereitschaftspolizei. Dem Untersuchungsbericht des baden-württembergischen Innenministeriums zufolge war einer der Polizisten schwerpunktmäßig an Einsätzen bei Delikten mit »rechtem Hintergrund« beteiligt. In derselben Einheit der Bereitschaftspolizei arbeitete später auch die 2007 in Heilbronn mutmaßlich vom NSU erschossene Michèle Kiesewetter. In seinen Berichten für das BfV teilte Richter damals mit, dass mehr als nur zwei Polizisten Mitglieder des Klans gewesen seien. Als »Kleagler«, offizieller Anwerber des KKK, hatte er den dazu nötigen Einblick in die Mitgliederstruktur des Geheimbunds.

Ein Beamter des BfV bezeichnete Richter als »Spitzenquelle«. Dieser verriet Interna über die rechtsextreme Szene in Sachsen-Anhalt, Thüringen, Baden-Württemberg und Sachsen sowie über die bundesweite Organisation »Blood & Honour«. Drei Jahre lang spitzelte Richter für das Landesamt für Verfassungsschutz in Sachsen-Anhalt, danach weitere zehn Jahre für das Bundesamt. In dieser Zeit zahlte ihm der Inlandsgeheimdienst etwa 180 000 Euro. Sogar Richters Reisekosten samt Spesen aus Anlass eines Treffens des Ku-Klux-Klans in den USA wurden erstattet.

Gegenüber den im Fall der NSU-Morde und -Brandanschläge ermittelnden Behörden war Richter nicht gesprächig. In den Vernehmungen durch das BKA bestritt er, das Trio oder eines seiner Mitglieder gekannt zu haben. Erst der Sonderermittler des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags, der frühere Richter Bernd von Heintschel-Heinegg, fand in Akten des Verfassungsschutzes Beweise dafür, dass »Corelli« zumindest 1995 »unmittelbaren Kontakt zu Mundlos« hatte. Im Februar wurde darüber hinaus dem Hamburger Verfassungsschutz eine CD mit brisantem rechtsextremem Material zugespielt, das zum Teil Thomas Richter zugeordnet werden konnte. In einigen Texten auf der CD ist von einem »Nationalsozialistischen Untergrund« die Rede – beschriftet ist die spätestens 2006 erstellte CD mit dem programmatischen Titel »NSU/NSDAP«.

Mit seiner Verlobten lebte Thomas Richter bis 2012 in Leipzig, wo er weiterhin das Internetportal »Nationaler Demonstrationsbeobachter« betrieb. Auf Demonstrationen fotografierte er Gegendemonstranten, um die Bilder anschließend ins Netz zu stellen. Dann half ihm der Geheimdienst, in Nordrhein-Westfalen neu anzufangen, um ihn vor möglichen Racheakten zu schützen.

Für Verschwörungstheoretiker ist der Fall »Corelli« ein gefundenes Fressen: »Corellis Tod beschert jener größtmöglichen Koalition aus CDU, SPD und – ja! – selbsternannter Bürgerrechtspartei Die Grünen eine Atempause. Sind es doch die Grünen, die vor allem in Stuttgart, wo sie regieren – aber auch seinerzeit im entsprechenden Bundestagsausschuss in Berlin –, alles daransetzen, eine rückhaltlose Aufklärung zu hintertreiben«, schreiben nicht etwa irgendwelche Truther oder Infokrieger, sondern der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik und der Politikwissenschaftler Hajo Funke. Gemeinsam raunen sie in der Taz: »Als Todesursache gab die Polizei den Klassiker aller unaufgeklärten und nicht aufzuklärenden Todesfälle bekannt: eine ›unentdeckte‹ Diabetes. Ein veröffentlichter Obduktionsbericht liegt nicht vor.«

Altgediente Verschwörungstheoretiker wie Henning Lindhoff, stellvertretender Chefredakteur des neurechten, libertären Magazins Eigentümlich frei, vertreten dagegen die Ansicht, dass es sich beim Tod von Thomas Richter um einen tragischen Zufall gehandelt hat: »Eine kryptisch formulierte Todesursache ruft stets Zweifler auf den Plan. Das wissen Polizeibeamte und Verfassungsschützer sicherlich nur allzu gut.« Sie hätten seinen Tod nicht mit einer »nicht erkannten Diabetes-Erkrankung« begründet, »die Raum für viele Fragen« lasse, schreibt Lindhoff. Das sehen Brumlik und Funke jedoch anders. Die beiden behaupten: »Die nicht anders als kriminell zu bezeichnende Energie aber, mit der die Sicherheitsexekutive und ihre parlamentarischen Wasserträger die Aufklärung des NSU-Skandals verhindern wollen, gefährdet die bundesrepublikanische Verfassung, unterhöhlt das Vertrauen der Bürger in die Demokratie und schafft eine Sphäre jenseits des Rechtsstaates.« Dass die Vernichtung von Akten nicht das Vertrauen in die bundesrepublikanischen Behörden stärkt, ist offensichtlich. Doch die Behauptung, die beauftragten Abgeordneten wären allesamt nicht an einer Aufklärung interessiert, entbehrt jeder Grundlage. Gerade die Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern haben bisher mehr Ergebnisse gebracht als andere Aufklärungsversuche.

Für die beiden emeritierten Wissenschaftler aber ist die Bundesrepublik auf dem besten Weg zu einer autoritären Bananenrepublik: »Beim Nato-Partnerland Türkei ist treffend von einem ›tiefen Staat‹ die Rede, einer jenseits der oberflächlich funktionierenden modernen Verwaltung wirkenden Koalition aus Militär, Geheimdienst und Polizei. Die deutsche Situation stellt sich noch dramatischer dar, führen doch hier nicht nur Dienste und Behörden ein politisch unkontrolliertes Eigenleben, sondern die gewählten demokratischen Institutionen selbst schirmen dieses Eigenleben vor der Öffentlichkeit ab.« Dass die »deutsche Situation« tatsächlich dramatischer ist als die türkische, darf stark bezweifelt werden. Aber die Beschwörung dieses Horrorszenarios hat auch eine entlastende Funktion: Brumlik und Funke müssen kein Wort über das Versagen der vielgerühmten »Zivilgesellschaft« verlieren und keinen Hinweis auf die Tatsache geben, dass auch die Presse nur zu gern von »Dönermorden« berichtete.

Dabei wollen Funke und Brumlik nur das Beste, denn andernfalls droht aus ihrer Sicht ein Rückfall in vergangene Zeiten: »Der NSU-Skandal, dieser noch nicht deutlich genug als Ausnahmezustand erkannte Fall von bewusstem und gewolltem Staatsversagen, beweist, dass Teile der Institutionen aktiv daran beteiligt sind, an die Stelle des demokratischen Souveräns die Souveränität vermeintlicher Staatsschützer zu setzen. Die DDR, die freilich nicht über die Camouflage einer liberalen Alltagskultur verfügte, folgte derselben Logik.« Dass das Morden des NSU der Herbeiführung einer Einparteienherrschaft samt marodierendem Geheimdienstwesen dienen sollte, ist zumindest eine originelle Erklärung. Erhellend ist sie jedoch nicht.

Donnerstag, 24. April 2014

Gesund genug fürs Ehrenamt

Die gesundheitliche Versorgung von Flüchtlingen birgt tödliche Risiken. Die Versuche, ihre Lage in anderen Lebensbereichen wie der Beschäftigung zu verbessern, sind zwiespältig.

Ralf Fischer / Jungle World


Die gesundheitliche Versorgung von Asylbewerbern ist in Deutschland keine Selbstverständlichkeit. Diese Tatsache kostete Anfang April einen vier Wochen alten Jungen das Leben. Gegen die Kinder- und Jugendklinik »Auf der Bult« in Hannover erhebt eine aus Ghana stammende Mutter schwere Vorwürfe. Die Klinik habe die Behandlung ihres Säuglings abgelehnt, weil sie keinen Behandlungsschein habe vorweisen können. Kurz darauf starb das Kind.

Die Klinikleitung bestreitet die Anschuldigungen. Man schicke keine Kinder weg, sagte der Ärztliche Direktor der Klinik, Thomas Beushausen, der Taz, das Versicherungsverhältnis habe man später geklärt. Die drei zuständigen Mitarbeiter hätten in der Situation keinen Notfall erkannt, außerdem sei die Verständigung »sehr schwer« gewesen.

Der Säugling hatte
schon seit seiner Geburt unter Atemproblemen gelitten, weshalb er schon zuvor einmal in die Kinderklinik »Auf der Bult« eingewiesen worden war. Die gesundheitlichen Probleme waren also bereits aktenkundig. Die Mutter erklärte, sie sei, nachmdem man sie abgewiesen habe, mit dem Bus zu einer Kinderärztin gefahren. Dieser bereitete es offenbar keine Probleme, sich mit der Frau zu verständigen. Sie ließ den Sohn umgehend in die Klinik einweisen. Doch er verstarb noch im Krankenwagen. Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos.

Dies ist kein Einzelfall. In Bayern wurden Mitte April drei Mitarbeiter des Zirndorfer Aufnahmelagers, die einem schwer kranken Flüchtlingskind die medizinische Hilfe verweigert hatten, vom Amtsgericht Fürth zu Geldstrafen verurteilt. Der Junge litt an einer Meningokokkeninfektion, hatte hohes Fieber und bereits schwarze Flecken im Gesicht, an den Armen und den Beinen. Sein Leben konnte später im Klinikum Fürth nur mit größter Mühe gerettet werden, er verlor einen Finger und einen Zeh und musste sich mehreren Hauttransplantationen unterziehen. Eine Angestellte des Aufnahmelagers muss eine Geldstrafe in Höhe von 2 400 Euro zahlen, ein Pförtner 2 700, ein weiterer 3 000 Euro. Die verurteilten Mitarbeiter sollen nach Angaben der mittelfränkischen Bezirksregierung zukünftig nicht mehr in dem Aufnahmelager eingesetzt werden. Alle anderen Mitarbeiter des Pförtnerdienstes wurden angewiesen, »in Notfällen stets den ärztlichen Bereitschaftsdienst oder Notärzte zu verständigen«. Ein Krankenschein sei dabei in keinem Fall nötig.
Das Problem ist jedoch nicht nur individuelles Fehlverhalten, sondern vor allem die bestehende Regelung, wonach Flüchtlingen eine Behandlung nur bei akuten Erkrankungen zugestanden wird. Sie wird nicht nur regional unterschiedlich ausgelegt, sondern sorgt auch für eine große Verunsicherung des medizinischen Personals in der Frage, was genau als akute Erkrankung anzuerkennen ist. Viele Ärzte wissen zudem nicht, welche Behandlungskosten sie bei Flüchtlingen abrechnen können. Derart im Ungewissen gelassen, ist die Einhaltung des hippokratischen Eids offensichtlich keine Selbstverständlichkeit mehr.

Die strukturell bedingte Gefährdung der Hilfsbedürftigen
beginnt jedoch in der deutschen Bürokratie. In den ersten vier Jahren ihres Aufenthaltes benötigen Flüchtlinge, die einen Arzt aufsuchen wollen, einen Krankenschein, den sie in der Regel nur nach einem persönlichen Vorsprechen bei der Sozialbehörde erhalten. Dieses Prozedere, das im Asylbewerberleistungsgesetz festgelegt ist, setzt Kranke potentiell tödlichen Risiken aus. Die Ausstellung eines Krankenscheins durch die Sozialbehörden oder das Auslösen des Notrufs in medizinischen Notfällen liegt in der Hand von unzureichend geschultem Personal, was einerseits Willkür und persönliche Abhängigkeiten erzeugt, andererseits zur Überforderung der Verantwortlichen führt. Gravierende Fehleinschätzungen und verweigerte Hilfe wie im bayerischen Zirndorf sind nicht ungewöhnlich. Das gesundheitliche Wohlergehen von Flüchtlingen wird durch die bestehende Gesetzeslage systematisch aufs Spiel gesetzt.

Ein schwacher, zwiespältiger, aber derzeit vieldiskutierter Trost
ist da der Versuch, die Lebensverhältnisse von Asylbewerbern in einem anderen Bereich zu verbessern. So gibt es Bemühungen, Flüchtlingen im Rahmen lokaler Initiativen eine ehrenamtliche Arbeit zu beschaffen. Im baden-württembergischen Schwäbisch Gmünd hat der Oberbürgermeister Richard Arnold (CDU) für die Vorbereitung der Landesgartenschau Flüchtlinge als Helfer rekrutiert. Im vergangenen Sommer sorgte Arnold schon einmal für Schlagzeilen, und nicht nur für positive. Er hatte Asylbewerber als Gepäckträger am Bahnhof engagiert – für 1,05 Eu­ro die Stunde. Erst nach überregionalen Protesten wurde das Projekt beendet.

Derzeit folgen die Bewohner des Flüchtlingsheims der Einladung des Oberbürgermeisters, freiwillig und ehrenamtlich beim Anlegen von Blumenbeeten zu helfen. »Ich bin der Oberbürgermeister einer Stadtgemeinschaft. Alle gehören hier dazu, auch die Flüchtlinge gehören dazu, das heißt, die Projekte, die wir hier machen, sind die Projekte von allen, also auch von den Flüchtlingen«, sagte der Politiker im Deutschlandfunk. Was manchen Beobachtern ausbeuterisch und zynisch erscheint, ist für die zur Untätigkeit gezwungenen Flüchtlinge eine willkommene Abwechslung. »Wir haben gesagt: Wenn sie Arbeit für uns haben, machen wir alles. Der Oberbürgermeister sagte: Ja. Alles machen wir. Egal, damit ich was zu tun habe, deswegen. Als Teil dieser Stadt möchte ich mich hier einbringen und werde ­Tickets kontrollieren«, berichtete ein freiwilliger Teilnehmer dem Deutschlandfunk.

Flüchtlingsorganisationen befürchten nicht zu Unrecht, dass die unbezahlte oder nur mit einer geringen Aufwandsentschädigung vergütete Arbeit irgendwann zur Pflicht werden könnte. Für viele Flüchtlinge ist es ein verlockendes Angebot, um der Langeweile in den Unterkünften zu entfliehen. Zugleich bieten solche Vorhaben eine Möglichkeit für ehrgeizige Lokalpolitiker, ihre hochtrabenden Projekte mit billigen Arbeitskräften zu verwirklichen.

Im hessischen Bad Salzschlirf übernahmen Asylbewerber kürzlich die Arbeit der Straßenreinigung. Beim sogenannten Osterputz pflegten sie die öffentlichen Grünanlagen und fegten die Bürgersteige sowie Parkplätze zur Freude der Fuldaer Zeitung »blitzblank«. Als Dankeschön vergütete der Landkreis Fulda die gemeinnützige Tätigkeit mit 1,05 Euro pro Arbeitsstunde und einem kostenlosen Mittagessen. »Die Langeweile und das Warten auf den Ausgang des Asylbewerberverfahrens sind sehr belastend«, sagte der Initiator des Projekts, Herbert Post. »Insofern war eine sofortige Bereitschaft zur Mitarbeit da und die Stimmung bei der Arbeit war ausgesprochen gut«, gab er zufrieden der Fuldaer Zeitung zu Protokoll.

Donnerstag, 10. April 2014

Brandenburg lebt.

Die Bevölkerungsentwicklung in Brandenburg ist weniger dramatisch, als es die Nazipropaganda gern hätte.

Ralf Fischer / Jungle World


Brandenburg stirbt aus, schuld daran sind die bundesdeutschen Demokraten – so lässt sich die extrem rechte Propaganda zusammenfassen, die eine Gruppe mit dem klangvollen Namen »Spreelichter« mit ihrer sogenannten »Volkstod-Kampagne« verbreitete. Bis zum Verbot der »Widerstandsbewegung in Südbrandenburg«, wie sich die Spreelichter auch nannten, im Juni 2012 marschierten ihre Anhänger, mit weißen Theatermasken und mit Fackeln ausgestattet, durch kleinere Städte in Ostdeutschland.

Die Auftritte der brandenburgischen Neonazis erinnerten einerseits an die Fackelzüge
der Nationalsozialisten, andererseits hatte zuvor schon die linke Kampagne »Die Überflüssigen« weiße Masken verwendet. Mit aufwendig produzierten Videos von den Aufmärschen konnten die rechtsextremen Organisatoren ihre Propaganda, »die unmissverständlich das System als Grund dafür erkennt und benennt, dass unser Volk seinem Tod entgegengeht«, in sozialen Netzwerken verbreiten. Dem Potsdamer Politikwissenschaftler Gideon Botsch zufolge gelang es den Neonazis, »neue Medien und neue Aktionsformen« zu erschließen, womit sie »teilweise ihre Marginalisierung durch den Mainstream etwas durchbrechen« konnten.

Mit dem Verbot der »Widerstandsbewegung in Südbrandenburg« wegen »Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus« und »aktiv-kämpferischen Vorgehens gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung« war vorerst auch die »Volkstod-Kampagne« der Spreelichter beendet. Von der Mischung aus Panikmache, völkischem Populismus und Propaganda in sozialen Netzwerken wollte die brandenburgische Neonaziszene aber nicht lassen. Bereits Anfang des Jahres riefen Nazis zu einer Demonstration unter dem Motto »Sieh nicht zu, wenn deine Stadt stirbt – werde aktiv« in der Kleinstadt Wittenberge auf. Dazu erstellte die Gruppe »Freie Kräfte Neuruppin« gemäß den bisherigen Erfahrungen ein professionelles Mobilisierungsvideo, in dem drastisch vor dem Einwohnerschwund der Stadt gewarnt wird: »Abwanderung, Arbeitslosigkeit, Vergreisung und Armut – und ihr? Ihr redet von Aufschwung?«

Trotz der langfristigen Mobilisierung kamen am vergangenen Wochenende aber nur 200 Neonazis aus Nord- und Ostdeutschland zu der Demonstration. Die Gegendemonstranten waren in Wittenberge in der Überzahl. Immer wieder kam es zu kleineren Blockadeversuchen, eine größere Blockade beendete den Naziaufmarsch endgültig. Frustriert fanden sich später etwa 70 Rechtsextreme »wegen der staatlichen Repressionen in Wittenberge« im 70 Kilometer entfernten Neustadt/Dosse ein. Der spontane, halbstündige Aufmarsch führte in Polizeibegleitung vom Bahnhof durch drei Straßenzüge und wieder zurück. Die geringe Resonanz könnte sich auch darauf zurückführen lassen, dass der Rückgang der Bevölkerung in Brandenburg im Gegensatz zu dem in anderen ostdeutschen Bundesländern keineswegs dramatisch ist. Derzeit wird prognostiziert, dass die Bevölkerungszahl bis zum Jahr 2030 um 5,8 Prozent auf 2,36 Millionen Einwohner sinken wird. Im Berliner Umland wird für die Zukunft ein Bevölkerungsanstieg erwartet, während in den weiter von der Hauptstadt entfernten Gegenden ein Rückgang zwischen zehn und 20 Prozent vorausgesagt wird.

Am Tag vor dem versuchten Aufmarsch in Wittenberge hielt die NPD zwei Kundgebungen in Wandlitz und Bernau ab, ein kleiner Vorgeschmack auf die Wahlkämpfe in diesem Jahr. Die Partei hatte die Kundgebungen nicht angekündigt, um Proteste zu erschweren. Trotzdem sah sie sich in beiden Orten mit Gegendemonstranten konfrontiert. In Bernau standen acht Neonazis einer Allianz von SPD, CDU, Linkspartei und »Bündnis für Bernau« gegenüber.

Solche Szenen dürften sich in den nächsten Monaten wiederholen.
Für den diesjährigen Landtagswahlkampf kündigt die NPD 100 Kundgebungen, über 50 000 Plakate und eine Million Flugblätter an. Der Landesvorsitzende Klaus Beier tritt als Spitzenkandidat an, als Wahlkampfleiter wurde der Berliner Landesvorsitzende Sebastian Schmidtke vorgestellt. Dass diese von der Partei als »breite Offensive« angekündigte Strategie aufgeht, ist zu bezweifeln. Der Einzug in den Landtag ist wohl so gut wie ausgeschlossen.

Stattdessen scheint sich die NPD auf die Erringung kommunaler Mandate zu konzentrieren. Ohne große Konkurrenz durch die DVU oder andere rechtsextreme Splitterparteien beabsichtigt die Partei, die Zahl ihrer Mandate zu verdoppeln, bisher sind es 27. Mit 115 Kandidaten will die NPD in den Wahlkampf ziehen. Vor allem im südlichen Brandenburg kann sie mit guten Ergebnissen rechnen. Bisher erreichte sie in einigen Gegenden einen Stimmenanteil von über fünf Prozent. Auch die Ergebnisse der symbolischen ­»U-18-Wahl« im September 2013 für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sind nicht beruhigend. 5,7 Prozent der beteiligten Jugendlichen stimmten für die NPD. In Südbrandenburg erreichte sie teilweise sogar über zehn Prozent.

Das bei Kindern und Jugendlichen beliebte Krümelmonster wird im Wahlkampf aber keine Rolle mehr spielen. Ende März nahm die Polizei einen Mann fest, der in einem entsprechenden Kostüm vor einer Schule in Senftenberg Flugblätter mit der Aufschrift »Deutsch ist cool« verteilte, sowie seinen Begleiter, der die Szene filmte. Bei den Männern handelte es sich nach Informationen des RBB um einschlägig bekannte Neonazis. Bereits im vergangenen Herbst hatte sich ein als Krümelmonster verkleideter Mann in einem Video damit gebrüstet, einer Oberschule in Lauchhammer ein Schild mit der Aufschrift »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage« gestohlen zu haben.

Donnerstag, 3. April 2014

Muttis größte Lüge

Der im Mai 2013 vor dem Münchner Oberlandesgericht eröffnete NSU-Prozess wird voraussichtlich bis 2015 dauern. Die Aufklärung der unzähligen Ermittlungspannen ist im Verfahren kaum von Interesse.

Ralf Fischer / Jungle World



Angela Merkel (CDU) hatte es zugesagt. »Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.« In ihrer Rede auf der offi­ziellen Gedenkveranstaltung für die Opfer rechtsextremer Gewalt am 23. Februar 2012 in Berlin betonte sie, dass »alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck« an der Aufarbeitung der NSU-Morde und -Anschläge mitwirkten. Zwei Jahre später, beinahe ein Jahr nach dem Prozessauftakt in München, werden die kritischen Stimmen dagegen immer lauter. »Von der Politik ist es verlogen, wenn sie – auch was das Staatsversagen anbelangt – immer auf den Strafprozess verweist. Sie entledigt sich so ihrer Verantwortung und schiebt sie auf das Gericht, das diese Aufgabe gar nicht zu erfüllen vermag«, kritisiert der Nebenklageanwalt Jens Rabe in einem Interview mit dem Weser-Kurier.

Vor allem die schlampige Ermittlungsarbeit der Behörden wird kritisiert.
So überprüfte das Bundeskriminalamt (BKA) vor drei Jahren nur vier von elf Schusswaffen aus dem Zwickauer NSU-Versteck auf Fingerabdrücke. Bekannt wurde diese weitere Ermittlungspanne, weil den BKA-Ermittlern »erst jetzt« die entsprechenden Aktenvermerke dazu aufgefallen seien. Als besonders pikantes Detail stellte sich heraus, dass die Untersuchung der Tatwaffen in neun von zehn Mordfällen ebenfalls bis dato nicht stattfand. Die damalige Entscheidung verteidigt das BKA mit dem Verweis auf technische Probleme: »Die sieben anderen Waffen waren auf Grund der Brandeinwirkung für eine entsprechende Untersuchung nicht geeignet, daher konnten keine daktyloskopischen Spuren ge­sichert werden.« Doch nicht wenige Nebenkläger im NSU-Prozess haben Zweifel an dieser Darstellung. Sie fordern, wie Jens Rabe, endlich Aufklärung. »Das Vorgehen der Polizei ist für mich völlig unverständlich«, so der Nebenklageanwalt. Er fühle sich in seiner Auffassung bestärkt, »dass die Arbeit der Ermittlungsbehörden ständig hinterfragt und kontrolliert werden muss«.

Von den anfänglich mehr als 400 Ermittlern,
die im Auftrag der Bundesanwaltschaft mit den laufenden Ermittlungsverfahren zum NSU-Komplex befasst waren, sind gerade noch 35 Beamte aktiv. Deren Ermittlungstätigkeiten richten sich gegen neun Beschuldigte aus dem Umfeld von Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe, weil diese unter anderem den untergetauchten Neonazis mit der Bereitstellung von Fahrzeugen, Ausweispapieren oder Krankenkassenkarten geholfen haben sollen. Gegen sie wird ermittelt wegen des Verdachtes der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung.

Eine solche Anklage droht womöglich noch weiteren Personen. So ist zum Beispiel die Herkunft der Waffen sowie des Sprengstoffs noch völlig unbekannt. Bislang konnten die Bundeskriminalbeamten lediglich den Beschaffungsweg der Čes­ká-Pistole nachvollziehen, der Tatwaffe, mit der neun Migranten ermordet wurden. Bleiben noch zehn weitere Schusswaffen aus dem Zwickauer NSU-Versteck. Doch nicht nur die Waffenlieferanten sind im Visier der Fahnder. Schließlich sind noch mehrere Verfahren gegen Unbekannt anhängig, weil die Frage, ob es weitere rechtsterroristische Zellen gab und gibt, die vielleicht mit dem Trio kooperierten, bisher nicht vollständig geklärt ist. Eine Mammutaufgabe, die auf zu wenig Schultern verteilt ist.

Ein weiteres Detail ist den Ermittlern bei den Untersuchungen der finanziellen Situation des NSU-Trios aufgefallen. Bei eingehender Auswertung der Beträge, die durch die bisher bekannten Banküberfälle zur Verfügung standen, zeigte sich, dass die im Untergrund lebenden Neonazis sich nicht allein aus den Überfällen finanzieren konnten. Entweder bekamen die Untergetauchten Geld aus bisher unbekannten Quellen oder es sind noch nicht alle kriminellen Aktivitäten des Trios aufgedeckt worden.

Schon im vorigen Jahr wurde bekannt, dass sich Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe mit dem Verkauf des selbstgebastelten Spiels »Pogromly«, ein Würfelspiel in Anlehnung an das Spielprinzip von Monopoly, Geld dazuverdienen wollten. Eine dauerhafte Finanzierung wäre damit nicht möglich gewesen, aber bei der derzeitigen Zeugenbefragung von Juliane Walther, der ehemaligen Freundin des mutmaßlichen NSU-Unterstützers Ralf Wohlleben, erinnerte sich diese, dass sie 1998 gemeinsam mit dem Trio und Wohlleben das Spiel »Pogromly« gespielt habe. Eine Aussage, die so bisher noch nicht vorlag. Nun steht fest, dass Wohlleben nach dem Abtauchen auch privat noch Kontakt zu seinen ehemaligen Mitstreitern hielt. Ansonsten geht es Walther wie so vielen weiteren Zeugen aus der damaligen Neonaziszene, die sich bei ihren Aussagen gegenüber dem BKA noch erinnerten und nun vor dem Münchner Oberlandesgericht schweigen. Entweder berufen sie sich auf den Paragraphen 55 der Strafprozessordnung (das Recht auf Aussageverweigerung, wenn man sich selbst belasten könnte), oder sie behaupten, sie hätten die Erinnerung verloren. Auch Walther sagte vor Gericht aus, dass sie an diese Zeit wenig bis keine Erinnerung habe. Die damaligen Vorkommnisse lägen weit zurück und sie sei damals jung und naiv gewesen.

Walther war damals derart naiv, dass sie, die nach dem Untertauchen des NSU-Trios mit einer Mülltüte voller Kleidung aus Zschäpes damaliger Wohnung spazierte, kurz darauf Geld vom Verfassungsschutz annahm. Der thüringische Verfassungsschutz führte sie unter dem Decknamen »Jule« und hoffte, über sie an die flüchtigen Neonazis heranzukommen. Geld nahm sie bei den zwei Treffen gerne an, konkrete Ergebnisse lieferte sie aber nie. Für Opferanwalt Rabe ist es »ärgerlich, dass so viele dieser Zeugen unter einer Art Generalamnesie zu leiden scheinen«. Ihm und seiner Mandantin Semiya Şimşek bleibt noch als letzte Hoffnung, »dass Beate Zschäpe ihr Schweigen doch noch brechen wird«.

Selbst wenn die geladenen Zeugen reden, ist mit einer Aufklärung kaum zu rechnen.
André Kapke, eine bedeutendes Mitglied der Neonaziszene in Jena, spielt im Zeugenstand das vergessliche Unschuldslamm. »Nun, ich bin wirklich nicht der Sportlichste«, lautete seine dreiste Antwort auf die Frage, ob er an Wehrsportübungen teilgenommen habe. Kapke braucht keine Angst vor einer Strafverfolgung zu haben, seine Hilfe beim Untertauchen des Terrortrios ist längst verjährt. Dementsprechend frech tritt er im Gerichtssaal auf. Auf die Frage des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl, an welchen Demonstrationen er teilgenommen habe, antwortete der 38 Jahre alte Neonazi: »Nichts für ungut, aber ich war schon auf so vielen Demonstrationen.«

Dasselbe Schauspiel führt Kapke auf, wenn die Nebenkläger auf Antworten drängen. Ob nun Fragen nach den Namen von rechtsextremen Bands, nach seiner Verbindung zum Netzwerk »Blood & Honour« oder dem Slogan des Thüringer Heimatschutzes: »Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte«, der Jenaer Neonazis möchte sich nicht erinnern. »Nehmen sie es mir nicht übel, aber auf so einen Quatsch habe ich keine Lust«, war seine despektierliche Antwort auf die letztgenannte Frage.

Nicht aufgeklärt vor Gericht wurde der Verdacht, dass Kapke gemeinsam mit Ralf Wohlleben durch die Organisation von Rechtsrockkonzerten insgesamt 4 000 D-Mark für die abgetauchten Kameraden sammelte. Das wäre eindeutig als Unterstützung einer terroristischen Vereinigung auszulegen.

Woher das Geld zur Passbeschaffung für Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos stammte, konnten weder die Behörden, noch konnte es das Gerichtsverfahren, aufklären. Bekannt ist nur, dass Kapke »leere Pässe« von einem Kontaktmann des ehemaligen V-Manns Tino Brandt bekam.

Die noch anstehende Befragung des umtriebigen Multifunktionärs in der thüringischen Neonaziszene vor Gericht könnte mehr Aufschluss geben, vor allem, was die möglichen weiteren Geldquellen des NSU betrifft. Nach seinem Outing als Spitzel des thüringischen Verfassungsschutzes bestätigte Brandt, dass er die Gelder des Dienstes für seine politische Tätigkeit außerhalb der NPD, insbesondere für den »Thüringer Heimatschutz«, verwendet habe. Insgesamt soll es sich dabei um 200 000 D-Mark gehandelt haben.

Donnerstag, 27. März 2014

Wenn der Hass erwacht

Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien bestreiten den Wahlkampf für die anstehenden Europa- und Kommunalwahlen mit rassistischen Parolen. Migranten und Asylsuchende werden immer häufiger angegriffen.

Ralf Fischer / Jungle World


Jedes Jahr beobachten Menschenrechtsorganisationen den Trend, dass mit steigenden Temperaturen die gewalttätigen Angriffe auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte zunehmen. In diesem Jahr kommt hinzu, dass die rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien im Rahmen der Europa- und Kommunalwahlen in elf Bundesländern ihren Wahlkampf auf die »Zuwanderung in die Sozialsysteme« und die »Asylflut« konzentrieren. So werden Asylsuchende und Migranten derzeit deutschlandweit zur Zielscheibe rechter Hetze. Die Nichtregierungsorganisationen Pro Asyl und die Amadeu-Antonio-Stiftung rufen deshalb dazu auf, »rassistischer Stimmungsmache im Europa- und Kommunalwahlkampf entgegenzutreten und Flüchtlinge zu schützen«. Dass die Hetze brandgefährlich werden kann, »wenn sie nicht rechtzeitig auf entschiedenen Widerstand stößt«, zeigen die Ereignisse der vergangenen Wochen deutlich.

Mitte März veranstalteten einige Gegner des Flüchtlingsheims in Berlin-Hellersdorf
eine regelrechte Hetzjagd auf zwei jugendliche Flüchtlinge. »Die beiden Männer wurden nach ihrer Darstellung vom U-Bahnhof an von circa 15 Leuten verfolgt, bedroht und mit Flaschen beworfen«, berichtet der Bezirksverordnete Klaus-Jürgen Dahler (Linkspartei). Die beiden hätten sich in das Heim retten können und blieben unverletzt, aber »natürlich sind sie jetzt verängstigt«. Kurz nach Mitternacht flogen Bierflaschen auf das Flüchtlingsheim und eine Gruppe von mindestens sechs Männern versuchte, in das Heim einzudringen. Gerade noch rechtzeitig gelang es dem Wachschützer sowie einem Bewohner, die Tür zu verschließen. Erst 20 Minuten später erschien die Polizei.


Zwei Tage später zündeten Unbekannte das Auto einer Unterstützerin der Initiative »Hellersdorf hilft« an. Die katholische Seelsorgerin hatte die Flüchtlinge immer wieder mit Hilfsgütern versorgt, dabei sei sie auch fotografiert worden. Die Rechten hätten sich ihr Kfz-Kennzeichen notiert. Die Brandermittler der Polizei gehen davon aus, dass das Feuer nicht auf einen technischen Defekt zurückzuführen ist, sondern gelegt wurde, womit ein gezielter, politisch motivierter Anschlag sehr wahrscheinlich ist. Für den Fraktionsvorsitzenden der Piratenpartei im Berliner Abgeordnetenhaus, Oliver Höfinghoff, ist diese Entwicklung »keineswegs überraschend, sondern hat sich vielmehr schon vor Bezug des Flüchtlingsheims abgezeichnet«. Er fordert, dass »der Senat endlich den Ernst der Lage erkennen und entsprechend handeln« müsse.

In der sachsen-anhaltinischen Kleinstadt Merseburg wurden innerhalb von einer Woche drei Migranten bedroht, verprügelt und ausgeraubt. »Neger, was willst Du hier. Raus aus Deutschland«, riefen die Täter, die einen Somalier am 20. Februar im Merseburger Bahnhof verprügelten. Dabei schlugen sie seinen Kopf brutal gegen eine Wand. Vier Tage später, in einer Bahnunterführung, wurde ein Algerier Opfer eines Raubüberfalls. Der mutmaßliche Täter ist gefasst, ein rassistisches Motiv wird bisher nicht ausgeschlossen. Am Abend des 26. Februar bedrohten drei Männer einen Afrikaner mit einem Teppichmesser, zeigten den Hitlergruß und pöbelten: »Neger, geh zurück in Dein beschissenes Land.« Als daraufhin Personen aus dem Büro des Landtagsabgeordneten Sebastian Striegel (Grüne) eingriffen, kam es zum Handgemenge, bei dem das Opfer die Flucht ergreifen konnte. Die herbeigerufene Polizei nahm wenig später eine neunköpfige Gruppe Neonazis zwischen 18 und 22 Jahren aus Merseburg und dem Saalekreis vorläufig fest.

Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung galt die Region um Merseburg im südlichen Saalekreis bislang nicht als Schwerpunkt von Neonazis. 29 Überfälle Rechtsextremer verzeichnet die mobile Opferberatung des Vereins »Miteinander« seit 2008 für den Saalekreis  – die meisten fanden im Süden, in Merseburg, Mücheln oder Bad Dürrenberg statt. Davon geschahen jedoch allein 17 in den vergangenen beiden Jahren. Grund dafür sei eine Neonaziszene, »die mit wahnsinnigem Selbstbewusstsein« auftrete, berichtet David Beg­rich. Der Mitarbeiter von »Miteinander« geht davon aus, dass die Szene sich äußerlich nicht unterscheide »von dem, was in anderen Kleinstädten Ostdeutschlands los ist, aber deutlich aggressiver« sei.

Im Zusammenhang mit einem versuchten Tötungsdelikt am 10. März in Mainz sucht die Po­lizei noch dringend Zeugen. Während einer Busfahrt gerieten ein 57jähriger Mann aus Idstein und ein 28jähriger Mann angolanischer Abstammung aus Mainz in einen heftigen Streit. Zu Handgreiflichkeiten kam es beim Aussteigen aus dem Bus, dabei attackierte der 57jährige sein Opfer mit einem Messer und verletzte es lebensbedrohlich. Bei einer Mahnwache, die zwei Tage nach dem Angriff stattfand, teilte der Veranstalter unter Berufung auf mehrere anonyme Zeugen mit, der Täter habe den jungen Mann bereits rassistisch beleidigt, bevor er mit dem Messer auf ihn eingestochen habe. Bei seiner Festnahme soll er zudem gerufen haben, er hasse alle Ausländer. Der 28jährige wurde operiert und ist nach Auskunft der Ärzte außer Lebensgefahr.

Wie erfolgreich die lokale Revierverteidigung mit harter Hand sein kann, zeigt das Beispiel Duisburg-Rheinhausen. Hier sorgte ein Mietshaus, in dem Roma-Familien aus Osteuropa ein neues Zuhause gefunden hatten, für viele Schlagzeilen sowie unerträgliche rassistische Hetze. Am Ende der unzähligen Anstrengungen, die als »Problemhaus« stigmatisierte Unterkunft loszuwerden, begleitet von Demonstrationen rechts­populistischer und rechtsextremer Parteien, Versammlungen der örtlichen Bevölkerung und dem ständigen Druck der kommunalen Verwaltung, stand das erwartbare Ergebnis: Die Roma mussten gehen.

»Zum katastrophalen Schluss dieser für die Betroffenen leidvollen Geschichte bilden Stadt und Eigentümer, gewollt oder nicht gewollt, eine politisch wie menschlich stark zu verurteilende Allianz, in der sich die Stadt aus der Verantwortung für die zugewanderten Menschen zieht«, konstatiert das »Duisburger Netzwerk gegen Rechts«. Wie sonst nur bei Immobilien von Neonazis, bot die Stadt Duisburg dem Eigentümer des Hauses einen kommunalen Ankauf an. Als Voraussetzung nannte die Stadt die schnelle Freisetzung der Bewohner, obwohl es dem Anwalt zufolge keinerlei rechtliche Handhabe gab, den Bewohnern vor Anfang 2015 die Mietverhältnisse zu kündigen. Mitte März jedoch waren die ehemaligen Bewohner verschwunden.

Der derzeitige Aufenthaltsort der Roma ist unbekannt. Da es sich nicht um Asylbewerber handelt, fühlt sich die Stadt für die Unterbringung nicht zuständig. Sozialdezernent Reinhold Spaniel (SPD) äußerte gegenüber einer Lokalzeitung, dass man auf die »Mobilität der Betroffenen« setze. Alle Versuche durch die Unterstützer der ehemaligen Mieter, adäquaten Wohnersatz zu finden, stoßen auf Widerstand. Potentielle Vermieter waren nicht bereit, neue Mietverträge abzuschließen. Nach bisherigen Informationen sind die Kinder aus den Schulen abgemeldet worden und ein Großteil der Betroffenen hält sich nicht mehr in Duisburg auf. Viele soll es nach Dortmund und Hamburg verschlagen haben.

Donnerstag, 13. März 2014

Auf dem rechten Auge blöd

Mehr Befugnisse, mehr Geld, mehr Zusammenarbeit – das ist die Antwort der Bundesregierung auf das Vorgehen der Polizei und des Verfassungsschutzes im NSU-Skandal.

Ralf Fischer / Jungle World



An den offenen Fragen kann es nicht liegen. Geschah der Mord an Michèle Kiesewetter doch nicht zufällig? Was wusste der Verfassungsschutz wirklich über den Mord an Halit Yozgat? Trotz der bedeutenden Sachverhalte, die derzeit aufgeklärt werden sollen, sorgt der NSU-Prozess nicht mehr für allzu große Schlagzeilen.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) und Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD)
stellten von der Öffentlichkeit kaum beachtet Ende Februar den 31 Seiten langen Kabinettsbericht über den Stand der Verwirklichung jener Empfehlungen vor, die der NSU-Untersuchungsausschuss am Ende seiner Tätigkeit gegeben hatte. Der Abschlussbericht enthält 47 Empfehlungen für die Bereiche Polizei, Justiz, Verfassungsschutz und »Demokratieförderung«. Sie reichen von der Stärkung der Vollmachten des Generalbundesanwaltes bis hin zur besseren Koordination der Sicherheitsbehörden. Eine wesentliche Bedeutung besitzt auch die Stärkung der »Zentralstellenkompetenz« des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV).

Gerade die Verfassungsschützer dürften trotz ihres skandalösen Verhaltens als Gewinner aus der NSU-Affäre hervorgehen. Zwar fordert die Bundesregierung die konsequente Übermittlung von Erkenntnissen der Verfassungsschutzämter an die Strafverfolgungsbehörden, aber darüber hinaus wird in dem von de Maizière und Maas vorgestellten Kabinettsbericht keine Verfahrensweise aufgeführt, die nicht längst hätte Standard sein müssen. So sollen in Zukunft das »Controlling beim Umgang mit Informationen verbessert«, die Rolle des behördeninternen Datenschutzbeauftragten gestärkt und die Regelungen für den Einsatz von sogenannten V-Männern präzisiert werden. Reformbedarf wird auch bei den Anhörungsrechten der jeweiligen Kontrollgremien eingeräumt. Ebenso sollen der Quellenschutz sowie die Belange der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr in ein angemesseneres Verhältnis gebracht werden. Doch es handelt sich schlicht um Maßnahmen, von denen zu erwarten gewesen wäre, dass sie ohnehin als Standard für den Verfassungsschutz gelten.

Der Kabinettsbericht erschöpft sich so in einer Aufzählung von Binsenweisheiten. Verblüffend sind manche Aussagen dennoch: »Bei Ermittlungen im Bereich der Gewaltkriminalität soll sorgfältiger geprüft und dokumentiert werden, ob ein möglicher rassistischer oder anderweitiger po­litisch motivierter Hintergrund vorliegt und die Einbindung des polizeilichen Staatsschutzes erforderlich ist. Hierbei sollen Aussagen von Opfern/Opferzeugen stärker berücksichtigt werden.« Drängt sich hier doch erneut die Frage auf: In welchem Maß wurden wohl die Aussagen von Opfern rassistischer Gewalt bisher berücksichtigt?

Vielleicht in der Hoffnung, dass die scharfe Kritik und der gerechtfertigte Unmut
über die staatliche Verwicklung in den NSU-Skandal früher oder später verpuffen werden, setzt das Kabinett in seinem Bericht wohlfeile Worte in die Welt. Die Außendarstellung bestimmt die öffentliche Wahrnehmung. Deshalb versprechen de Maizière und Maas, die deutschen Beamtenstuben etwas zu entstauben: »Bei den Verfassungsschutzbehörden soll eine neue Arbeitskultur/ein neues Selbstverständnis mit mehr Transparenz und verbesserter interkultureller Kompetenz (›Offenheit statt Schlapphutkultur‹) geschaffen werden. Sie sollen sich mit Blick auf Ausbildung und Personalgewinnung und für eine Intensivierung des Austauschs mit Wissenschaft und Zivilgesellschaft öffnen.« Man gelobt, die »parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste u. a. zum Einsatz von V-Personen« zu stärken, den Umgang mit Opfern und Hinterbliebenen zu verbessern. Aber eine einschneidende Zäsur oder gar die vollständige Auflösung des Verfassungsschutzes steht selbstverständlich nicht zur Debatte. Es bleibt allein der Opposition vorbehalten, diese Forderung zu stellen, obwohl die SPD noch zu Oppositionszeiten wegen des »krassen Versagens« des Verfassungsschutzes zumindest eine tiefgreifende Reform anmahnte.

Dass nicht nur bei den Verfassungsschutzämtern großer Handlungsbedarf besteht, zeigen die neuesten Erkenntnisse zur Ermittlungsarbeit nach dem Untertauchen des NSU-Trios. Nach Recherchen des ARD-Politikmagazins »Fakt« wies die Staatsanwaltschaft Gera an, Gesprächsprotokolle des Mobiltelefons von Uwe Böhnhardt ohne Auswertung zu löschen. Dabei handelte es sich um mehrere Stunden an Telefonaten, die Böhnhardt in den ersten vier Wochen nach dem Untertauchen geführt hatte. Zu seinen Gesprächspartnern zählten unter anderem André Kappke und Ralf Wohlleben. Ferner gab es zahlreiche Telefonate mit Unterstützern und den Eltern von Böhnhardt und Beate Zschäpe. Nicht gelöscht wurden die Verbindungsdaten samt der Identifikation der Funkzellen. Die anhand der Daten bestehende Chance auf eine Ermittlung des Aufenthaltsortes von Uwe Böhnhardt wurde von den Fahndern nicht genutzt.

In den NSU-Untersuchungsausschüssen spielte die Abhöraktion bisher kaum eine Rolle. Erst durch die Recherchen von »Fakt« erfuhren die Abgeordneten von der Existenz der Verbindungsdaten. Das Landeskriminalamt (LKA) Thüringen hatte bisher behauptet, dass keine Erkenntnisse aus den Maßnahmen zur Telekommunikationsüberwachung bei den Eltern Böhnhardt und Mundlos und »der Überwachung des Handys von Uwe Böhnhardt erlangt werden konnten«. Weshalb bundesdeutsche Behörden ständig die Vorratsdatenspeicherung als unerlässliches Mittel für die Ermittlungsarbeit fordern, wenn sie nicht einmal Erkenntnisse aus einer Telefonüberwachung gewinnen können, wird wahrscheinlich unbeantwortet bleiben.

Warum die Fülle von Daten nicht genutzt wurde, bleibt auch für den ehemaligen Obmann der CDU im Untersuchungsausschuss des Bundestags, Clemens Binninger, ein »Rätsel«, wie dieser »Fakt« sagte. Ein wenig Aufschluss gibt die Aussage des früheren thüringischen Innenstaatssekretärs und Innenministers Manfred Scherer (CDU) vor dem Thüringer Untersuchungsausschuss. Er führte die unzähligen Fehler und Unterlassungen bei der Fahndung nach dem NSU-Trio auf die chaotischen Zustände in den Sicherheitsbehörden zurück. Scherer zufolge wurde die Fahndung nach den drei Neonazis aus Jena von der sogenannten Rotlichtaffäre der Polizei, der Diskussion um die Beschäftigung der Eisschnellläuferin Gunda Niemann-Stirnemann im Innenministerium und später vom Amoklauf im Erfurter Gutenberg-Gymnasium in den Hintergrund gedrängt. Das thüringische Landesamt für Verfassungsschutz sei in zwei verfeindete Lager gespalten gewesen, eines für, das andere gegen den damaligen Präsidenten Helmut Roewer.

Alles nur Behördenchaos? Die Befragung einer Zeugin vor dem thüringischen NSU-Ausschuss zum Fall der Polizistin Michèle Kiesewetter ergab Anfang der Woche bisher unbekannte Details, die in eine andere Richtung weisen. Die Zeugin, selbst Polizistin, berichtete, sie sei im Zuge der Ermittlungen im Jahr 2012 bedroht worden. Zwei Männer hätten sie zu Hause aufgesucht, irgendeinen Dienstausweis gezeigt und ihr geraten, sich »an bestimmte Dinge« im Zusammenhang mit dem Mord an der Polizistin nicht zu erinnern. Zudem seien die Reifen ihres Autos aufgeschlitzt worden. Die Zeugin erwähnte außerdem, dass es im weiteren Verwandtenkreis Kiesewetters Kontakte in die rechtsextreme Szene gegeben habe. Dies hatte Kiesewetters Onkel, ebenfalls ein Po­lizist, bisher vehement bestritten. Allerdings werden der Zeugin nach Angaben der Freien Presse ebenfalls Verbindungen ins rechtsextreme Milieu nachgesagt.

Dass die Verfassungsschutzbehörden ihre guten Verbindungen zu militanten Neonazis aufgeben
oder V-Leute nach strengeren Kriterien führen werden, ist angesichts des Kabinettsberichts nicht zu erwarten. Einen weiteren Beleg für die geringen Berührungsängste der Verfassungsschützer liefert der Fall von Michael See, der sich als V-Mann in den neunziger Jahren im thüringischen Leinsfelde selbst dem Verfassungsschutz als Quelle andiente. See, der in Wehrsportgruppen aktiv war, gute Kontakte zum »Thüringer Heimatschutz« und zum Netzwerk »Blood & Honour« besaß, sollte sich für den Verfassungsschutz »wegen seiner guten Kontakte in den norddeutschen Raum (…) nach dem untergetauchten Trio« umhören. Einzelheiten über seine Nachforschungen sind nicht bekannt. Die Akte wurde im November 2011 vernichtet, sieben Tage nachdem der NSU sich selbst enttarnt hatte und am selben Tag, als der Generalbundesanwalt Ermittlungen wegen der »Gründung einer rechtsgerichteten terroristischen Vereinigung« einleitete.

Donnerstag, 27. Februar 2014

Das Recht auf Gesundheit

Nach dem Tod eines Asylbewerbers in einem Plauener Flüchtlingsheim wird gegen den diensthabenden Wachmann wegen unterlassener Hilfeleistung ermittelt. Menschenrechtsorganisationen kritisieren schon lange Mängel bei der ärztlichen Versorgung von in Deutschland lebenden Flüchtlingen.

Ralf Fischer / Jungle World


Der Notarzt kam zu spät. Als er Mitte Februar in der Asylbewerberunterkunft im sächsischen Plauen dem 43jährigen Ahmed J. zu Hilfe eilt, ist dieser schon längst tot. Sein mehrstündiges Martyrium wirft viele Fragen auf. Im Dezember war der Libyer mit seiner schwangeren Frau und dem zehn Monate alten Sohn nach Deutschland geflüchtet, seit drei Wochen lebten sie in der Unterkunft in Plauen. Im Februar wurde er wegen akuter Bauchschmerzen im Vogtland-Klinikum untersucht und noch in derselben Nacht entlassen. Nur einen Tag später soll eine Krankenpflegerin im Asylbewerberheim angerufen und empfohlen haben, dass sich Ahmed J. noch einmal untersuchen lässt, berichtet die Freie Presse.

Doch dazu kam es nicht. In der Nacht seines Todes lag Ahmed J. vor Schmerz gekrümmt in seinem Zimmer. Der Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes sah ihn zwar in diesem Zustand, tat aber nichts. Nachdem ihn die aufgebrachten Heim­bewohner aufgefordert hatten, den Notarzt herbeizuholen, verbarrikadierte er sich hinter seiner Pforte. Erst als einige Flüchtlinge versuchten, ein Fenster aufzuhebeln, wählte der Wachmann den Notruf. Aber statt den Notarzt zu rufen, alarmierte er die Polizei. Zu diesem Zeitpunkt hatten die ersten Asylbewerber auf eigene Faust den Krankenwagen gerufen.

»Drei Stunden haben wir auf Hilfe gewartet. Dann war alles zu spät«,
berichtet der 24jährige Tunesier Saidi. Die Polizei ermittelt gegen den Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes wegen unterlassener Hilfeleistung. Polizeisprecher Jan Meinel bestätigt die Untersuchungen: »Wir ermitteln gegen den Wachmann, weil er fast zwei Stunden keine Hilfe geholt hat – trotz mehrfacher Aufforderung.« Die Flüchtlinge selbst haben lange den Notarzt nicht gerufen, weil unter ihnen das Gerücht kursiert, sie müssten dessen Einsatz aus eigener Tasche bezahlen. Der Zweigstellenleiter des zuständigen Sicherheitsdienstes, Frank Hohmuth, nimmt seinen Kollegen in Schutz: »Es ist schwierig, nachts allein Dienst zu haben. Erst vor kurzem wurde ein Kollege verletzt bei der Schicht.«

Saidi berichtet: »Der Wachmann hatte Angst vor uns. Und wir hatten Angst, dass unser Nachbar stirbt.« Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl kritisiert seit Jahren die mangelnde ärztliche Versorgung von Flüchtlingen und die schlechte Ausbildung des Sicherheitspersonals. »Im Fall Plauen soll nachts ein einziger Wachmann zuständig sein für eine Unterkunft mit 290 Bewohnern. Er ist für die Entscheidung, ob ein Rettungsdienst gerufen wird, sicher nicht qualifiziert«, erklärt die Organisation auf ihrer Internetseite. Sie dringt darauf, dass die Staatsanwaltschaft eine mögliche Mitverantwortung der Leitung des Wachschutzes, der für die Unterbringung zuständigen Kreisbehörde und auch des aufsichtführenden Ministeriums umgehend prüft.

Nach den vorliegenden Ergebnissen der Obduktion starb der Libyer an einer Lungenembolie. Pro Asyl fordert auch eine Untersuchung, ob es möglicherweise eine Verantwortung der behandelnden Ärzte gibt, die Ahmed J. wenige Tage zuvor aus dem Krankenhaus entlassen hatten. Dass inkompetentes Personal mit der Entscheidung über die Nptwendigkeit einer Behandlung befasst wird, liegt ebenso an der im Paragraph 4 des Asylbewerberleistungsgesetzes beschränkten ärztlichen Behandlung für Asylsuchende. Krankenscheine werden oft erst ausgestellt, wenn Flüchtlinge aufgrund einer akuten und schmerzhaften Erkrankung beim Sozialamt vorsprechen. Nach Meinung der Ämter könne nur so geprüft werden, ob ein Fall des Paragraph 4 vorliegt. Auch dabei bleibt offen, nach welchen Kriterien Sachbearbeiter diese Notwendigkeit prüfen.

Zu prüfen bleiben auch die bisher ungeklärten Umstände des Todes eines Asylbewerbers
im sachsen-anhaltinischen Zeitz. Mitte Februar fanden dort einige Mitbewohner einen 23jährigen Inder tot auf. Direkt vor dem Asylbewerberheim, auf einer Wiese. Die Staatsanwaltschaft vermutet, er sei aus dem Fenster gefallen. Hinweise auf Fremdeinwirkung gebe es bisher nicht. Die Unterkunft in Zeitz war in den vergangenen Monaten wiederholt in den Schlagzeilen. Die Bewohner hatten in einem Brief an den Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt über unzumutbare hygienische Verhältnisse, Ungeziefer und andere Mängel geklagt und eine Schließung dieser Gemeinschaftsunterkunft gefordert. Zuletzt sei jedoch bei unabhängigen und nicht angekündigten Kontrollen festgestellt worden, dass sich die Zustände verbessert haben. Das Problem mangelhafter medizinischer Betreuung aber bleibt bestehen. »Zentralisierte Formen der Unterbringung wie Gemeinschaftsunterkünfte sind nicht geeignet für kranke Menschen, da sie das Risiko bergen, dass Erkrankungen physischer, psychischer Art bzw. Sucht nicht erkannt und entsprechend betreut und versorgt werden«, mahnt der Flüchtlingsrat.

Doch selbst eine dezentrale Unterbringung ändert wenig an dem psychischen Druck, der auf den Flüchtlingen lastet. Im niedersächsischen Bunde mussten Rettungssanitäter in der vorigen Woche drei afghanische Flüchtlinge aus ihrer Wohnung ins Krankenhaus überstellen, weil diese versucht hatten, sich mit Medikamenten umzubringen. Anfang Februar wurde auf Anordnung des zuständigen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge einer dieser Personen mitgeteilt, dass sie nach Italien zurückgeführt werden sollte. Ihr Asylantrag sei in Deutschland nicht zulässig, weil er zuerst in Italien gestellt wurde.

Über die Asylanträge der beiden anderen Flüchtlinge ist vom zuständigen Bundesamt bislang noch nicht entschieden worden. Ein positiver Bescheid ist aber wegen der sogenannten Drittstaatenregelung kaum zu erwarten. Die letzte Zuflucht für abgelehnte Asylbewerber war bisher das Kirchenasyl und die Hoffnung auf den Petitionsausschuss des jeweiligen Landtags. Doch die bayerische Ausländerbehörde will auch diese letzte humanitäre Lücke in der Festung Europa schließen. Sie ließ erstmals in diesem Jahrhundert eine Kirche, in der eine traumatisierte Frau aus Tschetschenien mit ihren vier Kindern Zuflucht gefunden hatte, polizeilich räumen. Die Augsburger Polizeibeamten drangen in das Pfarrhaus ein, nahmen die Familie mit und schoben sie nach Polen ab. Der katholische Bischof Konrad Zdarsa spricht von einem einmaligen Vorgang, der sich nicht wiederholen dürfe.

Die alleinerziehende Mutter war mit ihren Kindern im Alter zwischen vier und 14 Jahren aus Tschetschenien nach Polen geflüchtet. Dort wurde sie in einer Sozialwohnung in Bialystok untergebracht. Tagtäglich erlebte sie extreme Diskriminierung und rassistische Übergriffe durch organisierte Neonazis. Als dann die Wohnung einer tschetschenischen Nachbarin von polnischen Neonazis in Brand gesetzt wurde, floh sie mit ihren Kindern nach Deutschland. In Bayern zeigten sich Flüchtlingsorganisationen in einer gemeinsamen Presseerklärung schockiert über die Abschiebung und forderten, das Kirchenasyl müsse unantastbar bleiben. An Zynismus nicht mehr zu überbieten sei »die Behauptung, die Frau wäre freiwillig mitgegangen«, erklärte die flüchtlingspolitische Sprecherin der Fraktion der Grünen im bayerischen Landtag, Christine Kamm. »Eine Mutter mit vier Kindern hat letztlich keine Chance, sich dem einschüchternden Polizeiapparat zu widersetzen.«

In Berlin schoben die Behörden im Februar eine tschetschenische Familie nach Polen ab, obwohl die Eltern nach Angaben ihrer Anwältin in Tschetschenien schwer gefoltert worden waren. Zwei Kinder der Familie kamen mit Behinderungen zur Welt: Das dreijährige Mädchen ist spastisch gelähmt und kann nicht laufen. Das zweijährige Mädchen hat einen deformierten Kopf, ist fast blind und lag in seinem kurzen ­Leben bereits sechs Mal wegen Hirnoperationen und epileptischer Anfälle mit akuter Lebensgefahr in einer Spezialklinik der Berliner Charité.

Weil die Familie, wie so viele aus Tschetschenien, über Polen nach Deutschland einreiste, muss sie ihren Asylantrag dort stellen. Die dagegen in Deutschland eingelegten Rechtsmittel sind selten erfolgreich, da Polen als sicheres Drittland gilt. Dort sei aber die »erforderliche intensivmedizinische Versorgung der Töchter« nicht gewährleistet, argumentiert die Anwältin der Familie, Julia Kraft. Des Weiteren drohe vielen Flüchtlingen in Polen Obdachlosigkeit, »das ist aufgrund der Krankheit der Töchter und der psychischen Erkrankungen der Eltern wegen erlittener Folter nicht zumutbar«, so Kraft. Doch ein Antrag auf humanitäres Bleiberecht, einen Tag vor der Abschiebung bei der Härtefallkommission, erreichte Innensenator Frank Henkel (CDU) zu spät.

Da die beiden Mädchen Attesten der Charité zufolge einer ständigen medizinischen Überwachung bedürfen, war der Familie zugesichert worden, »dass die Familie ärztlich begleitet nach Polen abgeschoben wird«, berichte der Jesuitenpater Frido Pflüger. Doch die Begleitung endete an der deutschen Grenze. Der Familienvater beklagte im Interview mit der Taz, dass sie »für die fünfstündige Fahrt weder Nahrung noch Windeln bekommen« hätten, und da die deutschen Polizisten vergessen hätten, die Medikamente wieder auszuhändigen, habe seine Tochter auf der Fahrt zwei epileptische Anfälle erlitten. In Warschau angekommen, wurde die Familie in ein abgelegenes Flüchtlingsheim verwiesen. Nach ei­genen Angaben musste die Familie zweieinhalb Kilometer zu Fuß durch einen Wald laufen.