Ralf Fischer ist 26, Ernst Bellasch 81. Beide trafen sich im April 2005 auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen. Fischer half, dort als Student die Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZs vorzubereiten. Er interviewte Bellash, der als Zeitzeuge aus Belarus kam. Nur durch Glück hat der Weissrusse seine Leidenszeit in deutschen Lagern überlebt.
Ralf Fischer / Politik Orange
Dichtes Gedränge auf dem Gelände des
ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen in Oranienburg. Einige
hundert Überlebende aus Russland, Frankreich, der Ukraine, Israel,
Holland, Polen, Dänemark und anderen Ländern sind zum 60. Jahrestag
der Befreiung des KZ durch sowjetische und polnische Soldaten
angereist.
Die meisten noch lebenden ehemaligen
Häftlinge sind schon 80 bis 90 Jahre alt. Oder noch älter. Doch
trotz des Alters beeindruckt ihr Willen, sich dem Ort des Grauens zu
stellen. Ernst Bellash aus Belarus, mit seinem Lächeln und seiner
charmanten Art des Erzählens, ist einer von ihnen. Statt eines
Namens steht eine vierstellige KZ-Nummer auf seinem Schild. Die
Nummer ersetzt einen Namen. Kaum fassbar für Menschen, die nach 1945
geboren wurden. Ziffern statt Buchstaben, um Menschen zu
unterscheiden, „8268“ statt Ernst Bellash.
Als er im Dezember 1925 in der
Sowjetunion geboren wurde, war er der Sohn eines Revolutions- helden.
Eines großen Helden, wie er sagt. Sein Vater kämpfte während des
Bürgerkriegs auf Seiten der Bolschewiki. Fünf Jahre nach seiner
Geburt zog er gemeinsam mit seinem Vater aus der belorussischen Heimat nach
Leningrad. Sein Vater studierte an der Akademie, der zwei Jahre ältere Bruder und er kamen in die
Schule.
1935 verlor er seinen Vater, sein
Vorbild
Ernst Bellash verlor 1935 seinen Vater,
sein Vorbild. Während seine beiden anderen Brüder auf das Internat
gingen, zog Ernst Bellash zu seiner Großmutter nach Belarus zurück.
Mit ihr ging er nach Ostpolen, als dieser Landesteil unter
sowjetische Herrschaft kam. Hier war die Großmutter geboren worden.
Zwei Jahre lang lebte er im Dorf Loknovic bis die Deutschen 1941
einrückten. Mit 15 Jahren musste er untertauchen und sich
verstecken.
1942 wurde er zum Arbeitsdienst
herangezogen. Auf einem Gut half er dem Buchhalter beim Auszahlen der
Löhne. Seinen Job nutzte er auch, um antifaschistische Zeitungen,
Papiere und wichtige Informationen weiterzuleiten. Doch eine Lehrerin
verriet ihn an die Polizei. Nur knapp sagte er dazu: „Mein Glück war
es, dass die einheimische Polizei mich verhaftete. Sonst wäre ich wahrscheinlich sofort erschossen
worden.“
Als Zwangsarbeiter rekrutiert
Aus dem Knast wurde er im März 1943
wieder für den Arbeitsdienst rekrutiert. Die Nazis holten sich
junge, kräftige Männer und Frauen als Sklaven per Zug ins Reich.
Wieder arbeitete er auf einem Landgut. Diesmal in der Nähe von
Greifswald und gemeinsam mit Franzosen und Polen. Im Herbst wurde er
nach einem Reitunfall in den Westen des Nazi-Reichs nach Reith bei
Krefeld beordert.
Die Zwangsarbeiter säuberten nach den
Bombenangriffen der Alliierten Straßen und schichteten die noch
nutzbaren Ziegelsteine aufeinander. In Krefeld schloss er sich einem
Antifa-Zirkel an und bereitete gemeinsam mit anderen Gefangenen
seinen Ausbruch vor. Nach dem ersten Versuch kehrten sie wieder in
die Unterkünfte zurück. Doch beim zweiten waren sie zu viert
erfolgreich. Es gelang ihnen, über die Kanalisation die Stadt zu
verlassen und bis zur Weichsel zu fliehen.
Der Glaube an den Kommunismus sowie
ihre patriotischen Gefühle ließen die jungen Männer diese
waghalsige Flucht wagen. Fast wäre sie gelungen. Doch hungrig, müde
und schmutzig griff sie Kriminalpolizei an der Weichsel auf. Von dort
kamen sie in ein Nazi-Lager. Weil die Verhöre keine Ergebnisse
brachten, lieferte man die Flüchtlinge in das Gestapo-Gefängnis in
Poznan ein.
Weil auch dort alle vier Männer, trotz Folter, nicht
verrieten, dass sie eigentlich entflohene Zwangsarbeiter waren,
wurden sie zusammen zur Arbeit auf ein Schloss geschickt. Gefesselt mussten sie wenig später nach Groß
Rosen. Dort rasierte man ihnen einen Streifen auf den Kopf. Als
Erkennungszeichen. Nach einigen Wochen bekam Bellash ein Augenleiden.
Es wurde so schlimm, dass er eine Augenbinde tragen musste und
arbeitsunfähig wurde. Das war im Frühling 1944.
Von Sachsenhausen nach Bergen-Belsen
Arbeitsunfähigkeit bedeutete
Abtransport. Die Richtung entschied der Lagerleiter. Der „Schornstein stand mir bevor“, sagte Bellash
wortkarg zu dieser Situation. Warum es das Konzentrationslager
Sachsenhausen wurde, kann er sich auch nicht erklären. Auch nicht,
wieso er nach einem Monat weiter musste, nach Rechlin, den Flughafen
ausbauen.
Die Qualen waren unbeschreiblich. Als
unser Gespräch auf die Zeit nach der Zwangsarbeit in Rechlin kam, in
der Bellash im KZ Dora arbeiten musste und später sogar noch in das
KZ Bergen-Belsen verschleppt wurde, brach
er das Gespräch ab. Die Herzlichkeit mit der er erzählte, bekam einen radikalen Bruch, die ahnen
lässt, wie entsetzlich diese Zeit gewesen sein muss. Bellash sagte zum Abschied sehr leise:
„Vielleicht erzähle ich es ein anderes Mal. Heute nicht mehr.“
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