Freitag, 1. März 2013

»Heut is Fußball!«


Auf der Antisemitismusliste des Simon-Wiesenthal-Centers belegen die (west)europäischen Fußballfans einen Spitzenplatz. Weit vor einem gewissen Herrn Augstein. Deutsche Medien nehmen davon kaum Notiz.  

Ralf Fischer / Konkret 


Es ereignete sich mitten in der Wiener Innenstadt. »Hau ab, du Scheißjude! Juden raus! Heil Hitler!« Mit diesen Worten wurde ein Rabbiner am Schwedenplatz lauthals angepöbelt. Ein Polizist, der den Vorfall beobachtete, schritt nicht ein. Die Entschuldigung für seine spontane und bei anderer Gelegenheit durchaus angebrachte Arbeitsverweigerung: »Na hörn’s, heut’ is Fußball!« Tatsächlich hatten sich an diesem herbstlichen Nachmittag im vergangenen Jahr die Anhänger des Wiener Fußballklubs Rapid zahlreich versammelt. Der Rabbiner versuchte damals, weitere Gesetzeshüter über das Vorkommnis zu informieren. Ohne Erfolg. »Daß diese Polizisten tatenlos zusehen und auch noch grinsen, ein regelrechtes Schockerlebnis«, gab er später zu Protokoll.

Fußballspiele versprechen ihren Anhängern beinahe komplette Narrenfreiheit. Rund um das Spiel werden dem Gegner Verbalinjurien ins Gesicht gerotzt, für die man sich andernorts vor Gericht verantworten müßte. Die Betonung liegt dabei auf ›müßte‹. Als vor fünf Jahren beim Oberheimligaspiel des Halleschen FC gegen die zweite Mannschaft des FC Carl Zeiss Jena immer wieder »Juden Jena«-Rufe ertönten, ermittelte die Staatsanwaltschaft von Amts wegen. Doch zu einer Anklage kam es nicht. Der Sprecher der Staatsanwaltschaft Halle begründete dies gegenüber der Presse kurz und knapp: »Allein ›Jude‹ ist nicht strafrechtlich bewehrt.« In der Kombination mit »Jena« sei das auch nicht anders.

Ungestraft über den Juden herziehen. Beim Volkssport Fußball kann der versammelte Mob seiner Lieblingsbeschäftigung unbehelligt nachgehen. Und er macht ausgiebig davon Gebrauch. Der israelische Bundesligaspieler Itay Shechter wurde einen Tag nach der Niederlage im Derby zwischen dem 1. FC Kaiserslautern und Mainz 05 beim Auslaufen von einer Gruppe eigener Fans bedroht und antisemitisch beleidigt. Das Freundschaftsspiel im Mai letzten Jahres zwischen den Nationalmannschaften von Deutschland und Israel in Leipzig wurde überschattet durch antisemitische Ausfälle des heimischen Publikums. Anhänger der israelischen Nationalmannschaft, die als solche zu erkennen waren, wurden mit Sprüchen wie »Juden, Juden, Juden, raus, raus, raus!« belegt und gefragt, ob sie ihren deutschen Paß dabeihätten. Hitlergrüße sowie der Hinweis auf den »Völkermörder Israel« blieben ebenfalls nicht aus.

Beim DFB-Pokal-Heimspiel des Halleschen FC gegen den MSV Duisburg riefen Auswärtsfans mehrfach rassistische und antisemitische Parolen. Ein Anhänger der Duisburger zeigte außerdem weithin sichtbar den Hitlergruß. Der »Spiegel«-Reporter Rafael Buschmann berichtete von unzähligen rassistischen und antisemitischen Beleidigungen gegen die Schalker Auswärtsfans durch den BVB-Ordnungsdienst im vergangenen Oktober. Ordner hatten die Schalker Fans mit Worten wie »Jude« oder »Kanake« beschimpft, während sich die in Hörweite stehenden Polizeibeamten eins feixten. Bei der Drittligabegegnung zwischen dem SV Babelsberg 03 und dem Chemnitzer FC einen Monat später riefen die sächsischen Fans wiederholt: »Arbeit macht frei – Babelsberg 03«.

Bei unseren (west)europäischen Nachbarn sieht es kaum anders aus. Ob nun propalästinensische Gruppen in Spanien öffentlich vor Wut schnaubten, weil der FC Barelona den ehemaligen Gefangenen der Hamas, den IDF-Soldaten Gilad Shalit, zum clásico eingeladen hatte, in Frankreichs Stadien immer häufiger der Ausspruch »sale juif« dreckiger Jude«) zu hören ist oder die Anhänger von Lazio Rom in ihren Sprechchören über das »Giallorosso ebreo« (»jüdische Rot und Gelb«) herziehen, weil sie als gestandene Faschisten den Fans des Lokalrivalen AS Roma das richtige nationale Bewußtsein absprechen.

Antisemitismus ist Alltag im europäischen Fußball, ganz besonders für die Fans des Londoner Fußballklubs Tottenham Hotspurs. Überall, wo der als jüdisch deklarierte Verein unterwegs ist, besteht für die Fans akute Gefahr, von Antisemiten beschimpft oder angegriffen zu werden. Erst im vergangenen November überfielen italienische Faschisten mit Messern und Schlagstöcken bewaffnet einige Anhänger von Tottenham in der Nacht vor ihrem Auswärtsspiel in Rom. Einen Tag später skandierten die römischen Fans im Stadion immer wieder den Sprechchor »Juden Tottenham« auf deutsch. Kaum zurück auf der Insel, wurden die Tottenham- Fans von den Anhängern des Klubs West Ham United ebenso herzlich empfangen. Deren Fans sangen in Anspielung auf den brutalen Überfall »Können wir euch jede Woche abstechen?« und imitierten Zischlaute in Anspielung auf die Gaskammern in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern.

Eine genaue Bestandsaufnahme des alltäglichen Antisemitismus rund um den Lieblingssport der Europäer ist kaum zu realisieren. Weder beim DFB noch bei der UEFA gibt es eine zentrale Informationsstelle, noch kommen alle Vorkommnisse ans Licht der Öffentlichkeit. Wie bei einem Eisberg verschwinden die meisten Ereignisse unbeachtet unter der Oberfläche. Die Spitze allein aber war für das Simon-Wiesenthal-Center alarmierend genug, die europäischen Fußballfans auf Platz vier ihrer Liste der gefährlichsten antisemitischen Beschimpfungen des Jahres 2012 zu setzen. Jakob Augstein dagegen schaffte es nur auf Platz neun.

Dr. Shimon Samuels, der Direktor für internationale Beziehungen des Simon-Wiesenthal- Centers begründete diese Entscheidung mit der »Zunahme antisemitischer Zwischenfälle, und das nicht nur in osteuropäischen Ländern«. Gerade in Westeuropa sei ein massiver Anstieg antisemitisch motivierter Haßpropaganda zu beobachten. »Und der Sprung von antisemitischen oder rassistischen Fangesängen zu konkreten Bedrohungen und Taten kann sehr klein sein«, betonte Samuels im »11 Freunde«-Interview.

Die Chance, im Zuge der Plazierung der europäischen Fußballfans in der Antisemitismus- Liste des Simon-Wiesenthal-Centers die Zunahme antisemitischer Propaganda innerhalb der westeuropäischen Fußballfanszene zum Thema zu machen, wurde nur zu gerne verspielt. In der sogenannten Augstein-Debatte ging es um die plumpe Abwehr treffender Kritik, konkret ging es wieder einmal um die eigenen, dem Geschäft innewohnenden Komplexe. Die Antwort des Betriebs war dementsprechend der Abwehrreflex einer ganzen Zunft. »Wir? Antisemiten? Niemals!« Im Nebel dieses eingeübten Rituals ging eine Nachricht verloren, die es wirklich verdient hätte, auf die Titelblätter zu kommen.

Ich danke meinen Freunden für die Hilfe bei der Recherche.

Ralf Fischer schrieb in KONKRET 11/07 über Bushidos antisemitische Gewaltphantasien 

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