von Ralf Fischer
Der Imperialismus, so geht die Rede,
ist ein Weltsystem der politischen Ökonomie, das neuerdings auch
mit Begriffen wie »Globalisierung« oder »neue Weltordnung«
charakterisiert wird. Zweck dieses neuen Imperialismus ist demnach
eine intensivierte ökonomische Erschließung des Weltmarkts,
nachdem dessen territoriale Erschließung weitgehend abgeschlossen
ist. Akteure dieser intensiven Kapitalisierung der Welt sind global
agierende Konzerne.
Soweit, so nachvollziehbar, auch wenn
Kritiker diese Charakterisierung als unscharf bewerten. Kombiniert
wird diese Rede immer wieder mit spezifischen Zuordnungen, die sich
zwar seltener auf nationale Konzerne beziehen, weil dies
offensichtlich vom Gang der Geschichte widerlegt wurde, dafür aber
um so häufiger auf Nationalstaaten und Staatenverbände. Am meisten
verbreitet ist das Sprechen vom US-Imperialismus, gelegentlich hört
man auch vom deutschen oder EU-Imperialismus. Der Staat erscheint
hier als meist militärischer, weltweiter Vollstrecker der national
ansässigen Kapitalinteressen.
Als Kampfbegriff - und zwar keineswegs
nur als linker - geistert das Wort Imperialismus schon lange herum.
Als theoretischer Begriff hat er eine wirre Karriere hinter sich, an
deren Beginn Rosa Luxemburg und vor allem Wladimir Iljitsch Lenin
stehen. Bei Lenin ist der Imperialismus erstens »monopolistischer
Kapitalismus«, zweitens »parasitärer und faulender Kapitalismus«
und drittens »sterbender Kapitalismus«. Punkt drei taucht bereits
im Titel von Lenins Werk »Der Imperialismus als höchstes Stadium
des Kapitalismus« auf. Diese Annahme ist mittlerweile erledigt. Alle
prophezeiten gesetzmäßigen Tode des Kapitalismus haben sich nicht
bewahrheitet. Lenins zweiter Punkt - der »parasitäre oder faulende
Kapitalismus« - bietet ein Einfallstor für reaktionäre Tendenzen
und antisemitisch begründeten Antikapitalismus.
Bleibt der noch immer gerne angeführte
erste Punkt, die These vom »monopolistischen Kapitalismus«, also
der Verschmelzung des Kapitals mit der Staatsmacht. Dieser
augenscheinliche Unsinn, wonach Staat und Ökonomie plötzlich eins
geworden seien - und der Staat nicht mehr die »Besonderung« der
Gesellschaft ist, wie es noch bei Marx hieß - geht auf Lenin zurück.
Ende des 19., Anfang des 20.
Jahrhunderts habe, so Lenin unter Berufung auf den britischen
Ökonomen John Atkinson Hobson, der Prozess der Konzentration und
Zentralisation seinen Abschluss gefunden. Die entstandenen Monopole
seien mit dem Staat zusammengewachsen. Die staatliche und die
politische Macht obliege seither dem Finanzkapital. Dieses gilt nicht
mehr, wie noch bei Marx, als besonderer, aber notwendiger Teil der
kapitalistischen Ökonomie, sondern agiere selbst in staatlicher
Funktion. Welch gefährliches Potential dieser Theorie innewohnt,
dürfte die antisemitische Figur des »schaffenden«
Industriekapitals verdeutlichen. Die klassische, sowohl bei frühen
Staatstheoretikern wie Thomas Hobbes und John Locke als auch bei Marx
grundlegende Unterscheidung von politischer und ökonomischer - also
gesellschaftlicher - Sphäre ist bei Lenin gestrichen.
Empirisch ist die Rede vom
(Staats-)Monopol bis heute nie belegt worden. Nachweisen lassen sich
nur mehr oder minder erfolgreiche Versuche von Einzelkapitalen, auf
die herrschende Politik Einfluss zu nehmen. Schaut man sich
beispielsweise die aktuelle Konkurrenzsituation in der
US-Stahlindustrie an, sieht man sich untereinander bekämpfende
Konzerne, aber kein Monopol.
Betrachtet man die Situation in der
Mikroelektronik, wo die Monopolkonstituierung kurz bevorsteht und wo
Microsoft über 90 Prozent des Weltmarkts abdeckt, fallen einem
zuerst die harschen Versuche des US-Staates ein, dieses Monopol im
Sinne der Gesamtreproduktion nicht nur der US-Volkswirtschaft zu
verhindern. Wo man auch hinblickt - eine Analyse der politischen
Ökonomie der Gegenwart ergibt keinen Grund, warum man mit Lenin
hinter die Marxsche Analyse zurückfallen sollte.
Anders als Lenin erkennt übrigens Rosa
Luxemburg, dass die Vorstellung, Einzelkapitale oder bestimmte
Kapitalfraktionen könnten einen Staat zu ihrem beliebig einsetzbaren
Instrument machen, mit dem Marxschen Staats- und
Gesellschaftsverständnis nichts zu tun hat: »Die Marxsche
Analyse der Akkumulation war zu einer Zeit entworfen, als der
Imperialismus noch nicht die Weltbühne betreten hatte, und die
Voraussetzung, die Marx jener Analyse zugrunde legt, die endgültige
absolute Herrschaft des Kapitals in der Welt, schließt gerade von
vornherein den Prozess des Imperialismus aus.« Luxemburg hält
das aber für einen Irrtum bei Marx.
Luxemburg wie Lenin können sich
kapitalistische Expansion nur militärisch vorstellen, nicht jedoch
auf dem klassisch bürgerlichen Weg der Handelsbeziehung. Der in der
Ware und folglich auch in der Ware - Geld - Beziehung enthaltene
Fetisch aber führt zu einer Hegemoniebildung, die sich im
Wesentlichen dem Umstand verdankt, dass die Hegemonisierten ihrer
Herrschaft zustimmen, wie überhaupt jede kapitalistische Ware - Geld
- Beziehung auf dem freien Willen der Akteure basiert, so wie der
Vollzug des Tausches die Zustimmung schafft.
Kriegerische Expansionen eines Staates,
in dem kapitalistische Ökonomie herrscht, galten Luxemburg, Lenin
und ihren zahlreichen Epigonen stets als Feldzüge im Auftrag von
Einzelkapitalen oder Kapitalfraktionen. Dann geht es, so die These,
um Rohstoffe, um strategische Knotenpunkte (Häfen, Transportwege
etc.) oder um Absatzmärkte, ohne dass jemals einer bemerkt hätte,
dass dies die theoretisch wackligste Annahme ist - als seien die
Marktteilnehmer im okkupierten Gebiet keine bürgerlichen Subjekte,
sondern müssten wie im Feudalismus bestimmte Warenquanten abnehmen.
Doch schon die Annahme, alle Kapitale
hätten Interesse an der militärischen Erschließung wichtiger
Rohstoffquellen, ist politökonomisch nicht nachzuvollziehen. Zum
einen verursachen die Vorbereitung und die Durchführung
militärischer Operationen Kosten und bergen Risiken, die nicht
wenigen Teilen des Kapitals als hinderlich erscheinen - etwa, wenn
Arbeitskräfte abgezogen und unter Soldatensold gestellt werden oder
die Aufrüstung mittels Steuererhöhungen finanziert werden soll. Der
Staat, nicht das Kapital, brauche die Armee, »um Zuwachs an Macht
und Reichtum zu gewinnen«, schreibt Marx.
Zum Zweiten bedarf ein Einzelkapital
oder eine Kapitalfraktion, um die Verfügungsgewalt über eine
Ölquelle zu bekommen, keineswegs militärischer Gewalt,
vorausgesetzt der Staat, der der ölquellenbesitzenden Gesellschaft
die Form gibt, verweigert sich nicht den politischen Erfordernissen
des Weltmarkts. Diese Verweigerung praktizierten die Sowjetunion und
der RGW jahrzehntelang, aber da ihre Abschottung nicht total war,
setzten sich letztlich auch hier die genannten politischen
Erfordernisse durch. »Sachzwang Weltmarkt« hat Elmar Altvater das
in anderem Zusammenhang genannt.
Wenn die Erschließung eines bislang
dem Weltmarktzugriff nicht offen stehenden Territoriums ohne
militärische Gewalt und mit Zustimmung der Bevölkerung geschieht,
ist das allen ökonomisch Interessierten lieber. »Es zeigen sich
hier besonders die zivilisierenden Wirkungen des Kapitals«,
heißt es bei Marx über die Effekte des internationalen Handels, der
eben nationalstaatliche Borniertheiten aufhebt. Nicht, dass
kriegerische Aktivitäten von Staaten, die man gemeinhin
imperialistisch nennt, ohne Bezug auf die politökonomische
Verfasstheit ihrer Gesellschaften erklärt
werden können, also nicht ökonomisch
wären. Aber: Es gibt weiterhin auseinanderfallende Kapital-und
Staatsinteressen, und mitunter ist es so, dass der Staat seine
Interessen auch gegen die Interessen großer und mächtiger
Einzelkapitale vertritt und durchsetzt.
Diese reagieren sowohl mit - meist
erfolgloser - Einflussnahme auf als dienlich erachtete
Staatsapparate, als auch mit dem Verlassen des nationalstaatlichen
Kontrollbereichs: der Weltmarkt als politisch unzureichend
reguliertes Feld. Dies kreiert das neue Kampffeld einer
Weltinnenpolitik, auf dem nationalstaatlich gebundene Interessen eine
nur periphere Rolle spielen und auf dem folglich jede Menge
überstaatliche oder nichtstaatliche Akteure - von der Nato bis hin
zu Attac - auftreten.
Antiamerikanismus and something more
....
Das binäre abendländische Denkmuster
von Selbst und Anderem, von Zivilisiert und Eingeboren, Gut und Böse
usw. kam Lenin bei seiner theoretischen Verwirrung zu Hilfe. Er
verband das aufkommende Nationalbewusstsein in den Kolonien mit der
Idee politischer Emanzipation. Eine wichtige Rolle spielte dabei das
so genannte Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Es wurde aber von
Fall zu Fall unterschiedlich interpretiert. Der deutsche Krieg gegen
Frankreich und Großbritannien nach dem Hitler-Stalin-Pakt konnte
beispielsweise als imperialistisch bezeichnet werden; als Deutschland
die Sowjetunion überfiel, wurde der Verteidigungskampf zu einem
antifaschistischen vaterländischen Volkskrieg erklärt.
Der vom Marxismus-Leninismus diktierte
Antiimperialismus wurde zu einer der einflussreichsten linken
Positionen bis in die neunziger Jahre. Spätestens seit dem
Vietnam-Krieg ist Antiamerikanismus Bestandteil vieler - auch linker
- Imperialismusanalysen; erinnert seit nur an die Parole »USA-SA-SS«.
Che Guevara propagierte »eine Kriegsansage gegen den
Imperialismus und einen Ruf nach der Einheit der Völker gegen den
großen Feind des Menschengeschlechts, die Vereinigten Staaten von
Amerika«. Die antiimperialistische Handlungsanleitung lautete:
»Schafft ein, zwei, viele Vietnam!«
Doch was vielleicht einmal richtig war,
führte sehr schnell zur Unterstützung wenig emanzipatorischer
Politikformen und Regime im Dienste der nationalen Befreiung. Erst
als der Sozialismus als Gegenmodell entfallen war und die USA als
einzige Weltmacht übrig blieben, begannen Linke, diese Positionen,
und damit ihre eigene Geschichte, kritisch zu hinterfragen und
antinational zu analysieren.
Das Projekt des »Gegen-Empire«, das
die Antiimps Negri und Hardt fordern, könnte in einem möglichen
Krieg gegen den Irak die weitere Spaltung der Linken bestätigen. Sie
dürften darauf bestehen, dass ein von den USA angezettelter Krieg,
auch als ein Krieg der USA und nicht eines dezentralisierten
Machtzentrums bezeichnet wird. Denn mindestens zwei Drittel der
Menschheit betrachten den 11. September mit zumindest klammheimlicher
Freude. »Ein Indikator dafür mag der bescheuerte Vergleich
zwischen den Toten von Hiroshima und denen der Anschläge sein«,
erläutert die Argentinierin Veronica Gago, den auch in der sich als
zivilisiert bezeichnenden Welt üblichen Hang zum Aufrechnen von
Toten.
Hardt und Negri betonen im Unterschied
dazu einen Anti-Antiamerikanismus und die Bedeutung der vom
machiavellistischen Geist geprägten US-Politsystem für den Übergang
vom Imperialismus der europäischen Nationalstaaten zur
weltumspannenden Souveränität des Empire. Im amerikanischen Traum
gelten die Grenzen als offen, auch wenn die Praxis anders aussieht:
»The frontier is a frontier of liberty.« Mit dieser
Provokation des europäischen Selbstverständnisses bleiben die USA
»europäische Gegenwelt - komplementärer Kontinent der
abendländischen Zivilisation, Projektionsfläche all jener Bilder
und Metaphern, die der Entgegensetzung zu Europa
entspringen; eine Projektionsfläche
abgespaltener Anteile des Selbsthasses, die vornehmlich der Moderne
geschuldet sind, aber der Neuen Welt allein aufgelastet werden.
Amerika trägt das Stigma einer weltumspannenden Zivilisation«,
schrieb Dan Diner 1993 in »Verkehrte Welten - Antiamerikanismus in
Deutschland«.
Immerhin stellte Lenin die richtige
Frage: Was tun? Wichtig ist, dass die Gegnerschaft gegen Staat und
Kapital sich nicht vereinfachender, personalisierender Argumente
bedient und Gesellschaft nicht als eine von einem monolithischen
Block aus Kapital und Staat gesteuerte Kategorie verstanden wird. Die
bürgerlich-kapitalistische Ökonomie ist als Ensemble
gesellschaftlicher Beziehungen, der Staat als Ausdruck dieser
gesellschaftlichen Verhältnisse zu analysieren.
Ob die Anti-Globalisierungsbewegung
einen besseren Namen verdient hat, wird sich daran zeigen, ob sie
solch eine Analyse vertiefen und ihre Praxis radikalisieren kann.
Dies könnte zu einer neuen
Form des Internationalismus führen,
die das Verhältnis zwischen dem Globalen und dem Lokalen neu
definiert, ohne sich auf Nation, »Volk«, Ethnie oder Folklore zu
beziehen. Nur so lässt sich eine Neuauflage der Debatte um die von
der imperialistischen Weltordnung »unterdrückten Völker«
verhindern.
Was tun - nun Wir?
Imperialismus und seine
verschwörerischen Theoreme sind in der Zukunft der emanzipatorischen
Linken komplett abzulehnen. Es bleibt an uns, dafür zu sorgen, dass
Israels Existenz ein Faktum
bleibt. Dies geht nur durch die
vollständige Zerstörung der antisemitischen Wahnprojektionen und
niemals durch die rassistischen Zuschreibungen von anderen.Und zu den
Vereinigten Staaten von Amerika: Sie sind weder pro-arabisch noch
pro-israelisch, sie sind pro-USA.
Der Widerspruch, der US-Aggression, wo
sie auftritt zu widersprechen und gleichzeitig den US-Schutz für
Israel gut zu heißen, zeigt nur eins: Den katastrophalen Zustand
dessen, was als Links bezeichnet werden kann. Solange also nichts in
Sicht ist und weltweit die linke Bewegung dem antisemitischen Rausch
verfallen ist, werden wir mit diesem Widerspruch leben müssen. So
lange wie dieser Zustand das Beste für Israel ist.
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